Jänner 2008 www.initiative.cc

Ohne Bindung
keine heile Kinderwelt

Gewalt und fehlende Bildungserfolge an den Schulen, desinteressierte, konformistische Jugendliche, unreife, nicht bindungsfähige Erwachsene – was läuft falsch in unseren westlichen Wohlstands- und Hektik-Gesellschaften? Bahnbrechende Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie zeigen: Gerade unser Glaube, wir müßten Kinder so früh wie möglich von uns unabhängig machen und Kinder würden am besten in großen Gruppen Gleichaltriger gedeihen, verhindert in alarmierendem Ausmaß die Heranbildung wirklich unabhängiger, voll ausgereifter Persönlichkeiten.

Dieser wunderbare und sehr lesenswerte Artikel stammt aus der Zeitenschrift Nr. 53/2007 - Vielen Dank für die freundliche Genehmigung - www.zeitenschrift.com

Erziehung

Von Angela Weiß.
Wie kommt es nur, daß so viele Kinder und Jugendliche heute in einer anderen, für Erwachsene nahezu unzugänglichen Welt leben? Sie scheinen Erwachsene im allgemeinen und ihre Eltern im Besonderen nur noch als lästige Geräuschkulisse wahrzunehmen. Viele Kinder oder neudeutsch „Kids“ schauen Erwachsene nicht aufmerksamer an als Möbelstücke und reagieren auf deren Ansprache bestenfalls mit verächtlicher Gleichgültigkeit. Was Erwachsene gut und wichtig finden,
kann schon deshalb nichts sein, und mit den Eltern Zeit zu verbringen, grenzt an Isolationsfolter, denn zuhause ist ja „niemand“, weil „alle“ zusammen irgendwo ab“chillen“. Technik, vor allem Kommunikationstechnik wie Handy und Internet, wird zwar eifrig genutzt, um coole Dialoge zu führen, aber nur die wenigsten möchten Technik auch verstehen oder gar selbst aktiv weiterentwickeln.

Wie es mit dem Lernen in der Schule aussieht, wissen wir pätestens seit PISA ja auch. Da diese Entwicklung schon eine Weile so geht, feiern auch die Erwachsenen mittlerweile nach Jahrgängen getrennt (20+-Party, 30+-Party, 40+-Party...). Die Begeisterung für „Klassisches“ wird zunehmend ersetzt durch immer neue Pop-Kulturen mit einer Halbwertzeit von etwa zehn Jahren.

Wir finden das heute normal. Doch es kann nicht immer so gewesen sein, und das ist eindeutig belegbar: Jede Zivilisation und Kultur konnte und kann nur entstehen, indem generationsübergreifend Wissen weitergeben wird und nicht jede Generation alles wieder neu erfinden und entdecken muß. Diese vertikale Weitergabe von Kultur zwischen den Generationen wird derzeit zusehends ersetzt durch viele kurzlebige, horizontal nach Altersgruppen geschichtete Pop-Kulturen.
Geht es den Kindern und Jugendlichen wenigstens gut in ihrer abgetrennten Cool-Welt? Mitnichten, das zeigen die stark zunehmenden Selbstmordraten und die nach amerikanischem Vorbild amoklaufenden Jugendlichen. Der öffentlich gewordene Abschiedsbrief des Bastian B. aus dem deutschen Emsdetten zeigt das Ausmaß, in dem Jugendliche in ihrer, unserer Welt verzweifeln können. Wer cool ist, der friert, das leuchtet ein.

90.000 "Raufunfälle jährlich

Nordamerika ist auch hier Trendsetter. Die geschilderte Problematik, daß Kinder und Erwachsene in getrennten Welten leben und kaum noch eine Verständigung möglich ist, besteht dort schon länger und hat weit bedrohlichere Ausmaße angenommen als in Europa. Dem Nationalen Zentrum für Bildungsstatistik zufolge wurden in den USA allein im Schuljahr 2002/2003 fünfzehn Schüler von Mitschülern getötet, es gab landesweit zwei Millionen – wie es heißt – nicht-tödliche Verletzungen und darunter 150’000 schwere Verbrechen wie Vergewaltigungen oder Körperverletzungen. In der Bundesrepublik Deutschland sind im Jahre 2003 „nur“ 93’295 Schüler infolge aggressiver Handlungen verletzt worden, in der Schweiz hat sich die niedrige Zahl der polizeilich verzeichneten durch Jugendliche verübten Körperverletzungen von 1992 bis 2003 allerdings mehr als verdoppelt.

Daher ist auch die Ursachenforschung in Nordamerika schon weiter gediehen, während wir uns noch über unsere Kinder und ihre aggressive Sprache wundern und nach individuellen Ursachen und Fehlern suchen. Besonders die Entwicklungspsychologen haben dabei Erstaunliches herausgefunden. Der führende Forscher auf diesem Gebiet, der kanadische Psychologe Dr. Gordon Neufeld, avancierte mit seinem kürzlich auch auf Deutsch erschienenen Buch "Unsere Kinder brauchen uns!" in kürzester Zeit zum Bestsellerautor. Sein Werk, eine Mischung aus Elternratgeber und populärwissenschaftlichem Sachbuch, liefert nicht nur eine einleuchtende Erklärung für das Phänomen, sondern zeigt auch, was wir ändern müssen, um wieder Zugang zur Generation unserer Kinder zu finden. Es wird derzeit in vierzehn Sprachen übersetzt, und Gordon Neufeld berät Bildungsbehörden in Nordamerika und hält weltweit Vorträge und Seminare. Zur direkten Arbeit mit Kindern und Eltern selbst kommt er kaum noch, statt dessen bildet er besonders engagierte Eltern, Therapeuten und Lehrer zum „Eltern-Coach“ aus, um die Verbreitung des von ihm gefundenen Wissens effektiver zu beschleunigen.

Der Bindungsinstinkt

Denn die Ursache für das Auseinanderdriften der Welten von Erwachsenen und Kindern ist, so Neufeld, geradezu erschütternd einfach, auch wenn die Auswirkungen komplex und vielschichtig sind: Kinder bringen für das Hineinwachsen in die Welt einen Bindungsinstinkt mit, der sich unzählige Zeitalter hindurch, seit Menschen auf der Erde leben, als nützlich erwiesen hat. In den letzten fünfzig Jahren haben wir jedoch unseren Lebensalltag so radikal verändert, daß dieser uralte Bindungsinstinkt, der die Beziehungen von Kindern zu ihrer Umwelt ordnet, seine Aufgabe nicht mehr erfüllen kann. Die instinktiven Mechanismen wirken sich statt dessen fatal zu unser aller Nachteil aus.
Es lassen sich sechs Bindungsarten ausmachen. Biologisch gesehen sind wir – wie viele Säugetiere – Nesthocker und Traglinge. Das heißt, wir kommen in einem Zustand zur Welt, in dem wir auf die umfassende Versorgung und später Anleitung erwachsener Artgenossen angewiesen sind, um überleben zu können und um zu lernen, wie das Leben funktioniert. Dementsprechend haben sich Mechanismen entwickelt, die dafür sorgen, daß dies auch geschieht.

Bindung durch körperliche Nähe und Zärtlichkeit.
Das Neugeborene braucht, abgesehen von der Versorgung mit Nahrung und Wärme, intensiven Körperkontakt, am liebsten rund um die Uhr. Alleinsein löst bei ihm einen Alarmzustand aus, der seine Entwicklung durch Streßhormone behindert. In der Steinzeit, bei Naturvölkern und in traditionellen Gesellschaften ist das meist kein Problem, wir tun uns heute eher schwer damit, dieses grundlegende Bedürfnis unserer Babys zu erfüllen. Mit ganztägiger Berufstätigkeit beider Eltern außer Haus ist es kaum vereinbar, denn was in Jahrmillionen gewachsen ist, läßt sich nicht einfach abstellen.

Bindung durch Gleichheit.
Die zweite Bindungsart ist gewöhnlich bereits im Kleinkindalter gut erkennbar. Das Kind versucht, so zu sein wie seine engsten Bezugspersonen und durch Nachahmung deren Art und Ausdrucksweise anzunehmen. Diese Bindungsform spielt beim Spracherwerb und bei der Kulturübermittlung eine entscheidende Rolle.

Bindung durch Zugehörigkeit und Loyalität
Die dritte Bindungsart tritt, sofern sich alles wie vorgesehen entwickelt, ebenfalls erstmals im Kleinkindalter auf. Einer Person nahe zu stehen bedeutet, sie als sein Eigen zu betrachten. Das sich bindende Kleinkind wird auf alles oder jeden, zu dem es eine Bindung hat – ob Mama, Papa, Teddybär oder kleine Schwester – einen Besitzanspruch erheben.

Bindung durch Bedeutsamkeit
Die vierte Art, nach Nähe und Verbindung zu streben, ist das Streben nach Bedeutsamkeit , dem Gefühl, jemandem wichtig zu sein. Wenn wir für jemanden wichtig sind, so sichert uns dies Nähe und Verbindung. Mit drei bis vier Jahren ist das sich bindende Kind ganz darauf aus, zu gefallen und Anerkennung zu finden. Für abfällige und mißbilligende Blicke ist es extrem empfänglich und leicht zu verletzen.

Bindung durch Gefühl
Eine fünfte Art, Nähe zu finden, erfolgt durch Gefühle – Gefühle von Zuneigung, Liebe und Wärme. Emotionen spielen bei Bindungen immer eine Rolle, aber im Vorschulalter wird das Streben nach emotionaler Nähe bei einem Kind, das tief empfinden kann und sehr verletzlich ist, sehr intensiv. Kinder, die auf diese Art Verbindung suchen, „verlieben“ sich häufig in ihre Bindungspersonen. Erfahren sie emotionale Nähe zu ihren Eltern, so können sie physische Trennungen von ihnen viel besser ertragen und es dennoch schaffen, die Nähe zu ihnen zu bewahren. Wenn wir die Bindung über die Sinne – die erste und primitivste Bindungsart – als den kurzen Arm von Bindung bezeichnen wollten, so wäre Liebe der lange Arm. Das Kind trägt das Bild der liebenden und geliebten Eltern in seinem Herzen und findet darin Trost und Halt.

Bindung durch Vertrautheit
Die ersten Anzeichen dieser letzten Bindungsart sind gewöhnlich zu Beginn der Schulzeit erkennbar. Jemandem vertraut zu sein heißt, sich ihm nahe zu fühlen. Diese Bindungsart ist gewissermaßen eine Wiederholung der Bindung über die Sinne, nur daß die Erfahrung, gesehen und gehört zu werden, jetzt auf der seelischen statt auf der rein physischen Ebene gemacht wird.
Bei einer gesunden Entwicklung verflechten sich diese sechs Stränge zu einem starken Verbindungsseil, das Nähe auch unter den widrigsten Umständen gewährleisten kann. Mit einer vollständig entwickelten Bindung hat ein Kind viele Möglichkeiten, seiner Bezugsperson, auch bei physischer Trennung, nahe zu bleiben und an ihr festzuhalten.

Auch Onkel und Tante sind wichtig

Es müssen dabei, das wird Dr. Neufeld nicht müde zu betonen, keineswegs immer nur die Eltern oder die Mutter diese Aufgabe der Orientierung und Halt gebenden Bezugsperson übernehmen. Auch ältere Geschwister, Großeltern, Tante und Onkel, Freunde, Erzieherinnen, Lehrer und weitere "Stammesangehörige" sind dafür durchaus geeignet. Wie lautet das afrikanische Sprichwort? "Um ein Kind zu erziehen, braucht man ein ganzes Dorf."

Entscheidend ist jedoch, daß unser Kind den Kreis seiner Bindungen ausgehend von seiner zentralen Bezugsperson nach und nach erweitern kann. Es hat ein tiefes, instinktives Mißtrauen gegen Fremde, eine höchst sinnvolle Einrichtung zu seinem Schutz. Wer möchte schon, daß sein Kind mit jedem Fremden mitgeht? Beim Einjährigen, das sich "fremdelnd" an die Mutter schmiegt und wegschaut, wenn wir es begrüßen, sehen wir diesen Instinkt in Aktion. Wenn es eine Weile zuschauen kann, wie wir freundlich mit der Mutter reden, entspannt es sich und taut allmählich auf. Doch diese Zeit gönnen wir unseren Kindern immer weniger, obwohl wir heute meist nicht mehr im Dorf, sondern in einer für das Kind unüberschaubaren Welt mit zahllosen unverbindlichen Kontakten leben. Viele Eltern tadeln ihre Kinder sogar, wenn sie schüchtern sind und sich weigern, der wildfremden "Tante" die Hand zu geben. Auch im Kindergarten wird es mit Mißbilligung registriert, wenn sich ein Kind verzweifelt an die Mutter oder den Vater klammert. Die Mutter erhält den Rat, ihr Kind mehr loszulassen - dabei klammert sich eindeutig das Kind fest, nicht die Mutter.

Hier sprechen die Ergebnisse der Bindungsforschung eine eindeutige Sprache: Erst wenn unser Kind sich sicher fühlt und seine Bindung zu uns Stufe fünf oder sechs erreicht hat, ist es in der Lage, auch bei längerer Abwesenheit innerlich mit uns verbunden zu bleiben. Die Ergebnisse der Bindungsforschung stehen im Gegensatz zu allem, was uns so eingetrichtert wurde. So laufen Kleinkinder, die jederzeit bereitwillig von den Eltern auf den Arm genommen werden, nachweislich früher längere Strecken selbst, als Kinder, die ständig vergeblich darum betteln, getragen zu werden. Aus der Geborgenheit auf dem Arm finden Kinder zu ihrem eigenen Wunsch zu laufen, denn sie wollen ja groß und unabhängig werden ("Alleine!!!"). Zurückgewiesen bleiben sie viel länger darauf fixiert, Geborgenheit zu erlangen, und die Freude an der eigenständigen Bewegung ist ihnen vergällt durch den Schmerz des nicht erfüllten Bedürfnisses und der Zurückweisung.

Wir machen es unseren Kindern schwer, uns zu lieben! Stellen Sie sich vor, Sie würden Ihren Partner bitten, ihm ein Glas Saft aus der Küche mitzubringen, und er würde antworten: "Das kannst du schon sehr gut alleine!" Von wem sollen unsere Kinder lernen, freundlich, zuvorkommend und liebevoll zu sein, wenn nicht von uns? Wie viele Erwachsene gibt es, die nicht gut schlafen, wenn ihr Ehepartner nicht neben ihnen liegt - von ihrem Kleinkind aber verlangen sie unbarmherzig, gefälligst "alt genug" zu sein und die Nacht mutterseelenallein im eigenen Zimmer zu verbringen. Dahinter steckt die - im Lichte der Wissenschaft wie aller menschlichen Erfahrungen gesehen völlig irrationale - Sorge, das Kind würde ohne Zwang nie allein laufen oder schlafen wollen, würde noch als Schulkind an der Brust trinken wollen usw.

Gute Bindung zur Lehrerin

Bis unser Kind also die Unabhängigkeit aus sich heraus entwickelt hat, ist es entscheidend, daß wir für den Aufbau einerguten Bindung zu der Betreuungsperson sorgen, die uns vertritt, damit das Kind nicht in eine verstörende Bindungslücke fällt und sich von uns verraten fühlt. "Unabhängigkeit und echte Ablösung werden durch Abhängigkeit und Bindung gefördert", postuliert Gordon Neufeld.

Leider kommt das Wissen über den Bindungsinstinkt in keiner pädagogischen Ausbildung vor, im Gegenteil, Eltern und pädagogisches Personal sind geradezu besessen davon, daß unser Kind sich möglichst früh abnabeln und möglichst viele "Freunde" haben muß, auch wenn die sogenannte Freundschaft nur darin besteht, sich gegenseitig das Sandschäufelchen auf den Kopf zu schlagen.

Soziales Verhalten und vieles andere lernen die Kinder aber von uns, nicht von anderen Kleinkindern. Der durchschnittliche Wortschatz von Kindern hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg deutlich verringert. Warum? Weil Kinder die Sprache heute eher voneinander lernen anstatt von Erwachsenen. Verhaltensstörungen treten schon bei Kindergartenkindern eindeutig um so häufiger auf, je länger sie von zu Hause fort sind. Kinder orientieren sich an den Menschen, an die sie gebunden sind. Die Fähigkeit, sich allein zu orientieren, entwickeln Kinder erst im Laufe ihrer Reifung. Mehr noch als vor körperlichen Verletzungen fürchten sich Kinder vor der Orientierungslosigkeit, die sie erfahren, wenn sie den Kontakt zu ihren Bindungspersonen verlieren. Solche Bindungslücken empfinden sie als unerträglich.

Wie Planeten um die Sonne

Absolut klar ist, daß so, wie die Planeten um die Sonne kreisen, Kinder ursprünglich um ihre Eltern und andere für sie verantwortliche Erwachsenen kreisen sollten. Doch inzwischen kreisen immer mehr Kinder statt dessen umeinander. Doch weshalb? Stellen wir uns vor, wir befänden uns in der wilden Natur auf einem dunklen, verschlungenen, uns völlig unbekannten Pfad. Allein hätten wir wahrscheinlich große Angst oder sogar Panik. Wären wir dagegen mit einem ortskundiger Begleiter unterwegs, von dem wir annehmen, daß er den Weg kennt, dann würden wir vertrauensvoll weiterwandern . Es gäbe nichts, das uns in Alarm versetzen würde, es sei denn, unser Begleiter gäbe seine eigene Unsicherheit zu erkennen.

Genau so schützen sich Kinder, indem sie einander als Orientierungspunkte benutzen, vor der alptraumhaften Furcht, eine Bindungslücke zu erleben, Wenn wir unser Kind ohne angemessene Vorbereitung, ohne bereits bestehende, stabile Bindung zur Betreuungsperson in Kindergarten, Hort oder Schule zurücklassen, fühlt es sich seinem Instinkt gemäß vollkommen alleingelassen in einer fremden, feindlichen Welt. Lehrer oder Erzieherin schaffen es in den üblichen großen Gruppen meist nicht, sich aktiv um den Aufbau einer persönlichen Beziehung zu allen Kindern zu bemühen. In seiner Not wendet unser Kind sich den anderen verlorenen Hänsel-und-Gretel-Gestalten zu.

Das Fatale daran: Der Bindungsinstinkt funktioniert polar, und das Kind wendet sich nicht nur seinen Altersgenossen zu, sondern gleichzeitig von uns ab. Es gibt heute schon Dreijährige, die am Wochenende nur übellaunig darauf warten, wann endlich wieder Montag ist und sie zu ihren zentralen ebenfalls dreijährigen Bindungspersonen im Kindergarten zurückkönnen. Und viele Eltern glauben, sich darüber freuen zu müssen, daß ihr Kind schon so "selbstständig" ist. Doch meist hat es seine altersgemäße, natürliche Abhängigkeit nur verlagert auf andere Dreijährige, die denkbar ungeeignet dafür sind, seine Entwicklung verantwortlich und liebevoll zu fördern. Da es sich von uns Erwachsenen verraten und verlassen fühlt, überträgt unser Kind seine Bindung von uns auf die Gleichaltrigen, und was diese sagen und tun, ist von nun an entscheidend. Auf der unbewußten Ebene gelingt es ihm so, das entsetzliche Gefühl von Verlorenheit und Verwirrung zu vermeiden.

Hauptsache zusammen

Kinder, welche die Erwachsenen durch ihre Altersgenossen ersetzt haben, sind damit zufrieden, einfach nur beisammen zu sein. Damit ist ihr Bindungsinstinkt befriedigt, und sie wenden sich zunehmend von den für sie verantwortlichen Erwachsenen ab. Es interessiert sie nicht mehr, wohin sie unterwegs sind und ob sie sich verirrt haben, Hauptsache sie verlieren nicht den Beistand der anderen. Die Anerkennung der Gruppe oder einzelner gleichaltriger Freunde wird für sie so lebenswichtig und zentral, wie es bisher die Zuwendung der Eltern war, auch wenn sie dabei völlig auf dem Holzweg sind. Sie hören nicht auf Erwachsene und bitten sie auch nicht um Rat. Die Folgen erleben wir alle: Kinder, die sich an Gleichaltrigen orientieren, interessieren sich für nichts anderes mehr und haben kein Interesse daran, Werte, Kenntnisse und Fertigkeiten ihrer Eltern und/oder Lehrer zu übernehmen. Sie sind "Erwachsenen-taub", das Zusammenleben und Unterrichten wird zur Qual, die Kulturübermittlung zwischen den Generationen bricht zusammen.
Oberflächlich könnte man argumentieren, daß unserem Kind die Bindung zu Gleichaltrigen gut tut, da sie ja vor Verwirrung und Orientierungslosigkeit schützt. Tatsächlich aber schützt sie nicht vor der Orientierungslosigkeit selbst, sondern lediglich vor dem dazugehörigen Gefühl.

Unser Problem ist, so Gordon Neufeld, daß wir uns nicht darüber im klaren sind, was uns überhaupt in die Lage versetzt, unsere Kinder zu erziehen: die Kind-Eltern-Bindung. Nur Kinder, die eine Bindung an uns haben, sind gern mit uns zusammen, wollen von uns lernen, es uns recht machen. Weil uns das nicht klar ist, versuchen wir, durch Ermahnungen, Strafen oder Belohnungen das Verhalten unserer Kinder direkt zu beeinflussen. Das ist so, wie wenn unser Partner nicht mehr unsere Nähe suchen und sich einsilbig zurückziehen würde, um seine Zeit mit anderen zu verbringen. Würden wir dann finden, daß unser Partner verhaltensgestört ist? Vermutlich wäre uns schnell klar, daß ein Beziehungsproblem vorliegt und Ermahnungen oder Strafen ihn nur noch mehr von uns entfernen. Auch Kinder ändern ihr Verhalten meist nicht, weil sie plötzlich verhaltensgestört sind, sondern weil sie nicht mehr uns gefallen wollen, sondern ihren Kumpels. Und das so ist, fehlt uns die entscheidende Grundlage, um sie erziehen zu können, denn die Grundlage unserer Befähigung, ihr Vorbild zu sein liegt keineswegs in irgendwelchen besonderen Gaben oder Erziehungskniffs, sondern allein in der Bindung unserer Kinder an uns.

Die ewigen Jugendlichen

Wenn unsere Kinder statt an uns an ihre Clique gebunden sind, sind wir als Erzieher praktisch ohnmächtig. Doch die Folgen für die Kinder sind noch fataler: Weil die Beziehung zu Gleichaltrigen Kindern nicht die nötige Sicherheit und Geborgenheit geben kann, verhindert diese Bindung an Gleichaltrige die Reifung zu echter Selbständigkeit. Denn das Kind wird durch das unreife Verhalten seiner Altersgenossen immer wieder so verletzt, daß es eine dicke Schutzschicht um sein Herz legen muß, um diesen Schmerz nicht mehr zu spüren. Die Herzflamme verkleinert sich, das Kind wird "cool" und spürt kaum noch Gefühle. Doch ohne die Wahrnehmung differenzierter, auch gemischter Gefühle können wir nicht zu unserem vollen Potential reifen. So entstehen unreife, konformistische Erwachsene, die ihr wahres Potential nicht entfalten können - die "ewigen Jugendlichen".

Gesetzmäßige Zusammenhänge erkennen wir oft erst, wenn wir aus der natürlichen Ordnung herausgefallen sind und die Gesetzmäßigkeiten sich gegen uns auswirken. So ist es auch mit der Kind-Eltem-Bindung. Solange wir nicht um ihre entscheidende Bedeutung für die Erziehbarkeit von Kindern wissen, verstehen wir nicht, warum wir uns Kindern gegenüber heute oft so ohnmächtig fühlen. Wir erwarten, sie müßten doch an uns, unseren Werten, unseren Vorgaben und unserem Wissen interessiert sein. Doch das gilt nur, weil sie an uns gebunden sind, und dafür müssen wir aktiv um sie werben. Bei Babys tun wir das noch, wir führen einen regelrechten "Bindunstanz" auf, den Neufeld genau beschreibt. Wir nähern uns dem Kind, so daß es uns anschaut, reißen die Augen auf, lächeln und nicken, bis das Kind ebenfalls lächelt und nickt. Doch sowie die Kleinen anfangen zu krabbeln, ändern wir den Umgangston, und im Alter zwischen 11 und 17 Monaten macht ein Kleinkind im Durchschnitt alle 9 Minuten die Erfahrung, daß ihm etwas verboten wird. Ungefähr zur selben Zeit oder etwas später hören wir auch auf, den "Bindungstanz" aufzuführen und verlassen uns wie in einer altvertrauten Partnerschaft darauf, daß der andere uns schon weiterhin lieben wird, auch ohne daß wir besonders freundlich zu ihm sind (was übrigens auch unter Erwachsenen nicht funktioniert ... ). Und an ihre, Teenager wenden sich viele Eltern fast nur noch, wenn es etwas. zu "meckern" gibt.

Was tun ?

Derzeit wird für alle Probleme im Zusammenhang mit Kindern meist mit der Forderung nach noch mehr und früherer Fremdbetreuung reagiert. Doch es ist entscheidend wichtig, für unsere Kinder, unser Familienleben, unsere Gesellschaft und unser aller Zukunft, daß wir uns bewusst machen, wie sehr unsere Kinder uns brauchen.

Angela Weiß

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