März 2006 www.initiative.cc
Der
Horror auf den Handys !
Prügelclips und Mordvideos
Ohne Handy bist du heute nichts mehr! Für Jugendliche ist es Statussymbol, Hauptkommunikationselement. Fast jeder 12- bis 19jährige besitzt ein Mobiltelefon. Nur wird damit nicht in erster Linie telefoniert. Mit modernen Handys kann man Musik hören, Fotos schießen oder sogar kleine Videos drehen. Nett eigentlich. Wenn es nette Fotos oder Videos wären. Aber nett ist anscheinend nicht in. Viel spannender ist es, Prügelszenen zu filmen, Gewaltvideos auf das Handy zu laden und mit den anderen auszutauschen. Die Erwachsenen haben davon meist keine Ahnung. Anke Hunold, Maike Rudolph und Christian Rohde über die schreckliche Welt auf Schüler-Handys.
ARD-Fernsehsendung
Panorama zum neuen Gewaltmedium
|
Es ist
der 29. November 2005. Grosse Pause in der Alfred-Teves-Schule in Gifhorn.
20 Minuten frische Luft, bis der Unterricht wieder beginnt. Was an diesem
Tag passiert, wird den Alltag verändern. Es beginnt mit einer scheinbar
harmlosen Prügelei von zwei Sechstklässlern. Kein Schüler
greift ein.
Marcus Lüpke, Lehrer: "Drum herum standen eben, das fand ich sehr
schockierend, sechs bis sieben Schüler, die mit Handys diese Szenerie
gefilmt haben und auch lautstark die beiden Kontrahenten aufeinander losschickten:
Los jetzt, weiter ran." Die Schlägerei wird zum Spektakel für
die Kameras.
Schüler: "In dem Moment denkt man gar nicht nach, wenn man filmt
und so. Man will einfach nur das Video haben und es anderen zeigen. Das
ist dann eben so cool. Und dann ist auch gar keiner dazwischengegangen.
Jeder hat noch weiter provoziert. So schlagt euch und so. Das ist dann eben
so cool, wenn man das seinen Freunden zeigt. Das kommt dann besser an bei
seinen Freunden. Und so gehört man auch dazu, wenn man brutale Sachen
oder so hat."
"Dann
gehört man auch dazu !"
|
Sportlehrer
Marcus Lüpke hat die Prügelei beendet. Die Handys, mit denen gefilmt
wurde, sammelt er ein. Was der Lehrer findet, versteckt in Dateiordnern
auf den Telefonen seiner Schüler, ist erschreckend brutal.
Schüler: "Da liegt so ein Typ zum Beispiel, und dem wird mit einem
Messer einfach die Kehle durchgeschnitten, hier so einmal so. Das sind einfach
Sachen, die sind echt passiert. Das ist auch nicht verschwommen. Man sieht
alles, das ist richtig eklig."
Schüler: "Da wird eine Waffe auf den Kopf gehalten und abgedrückt,
und dann sieht man hinten an der Wand Blut, also der ganze Kopf ist zerfetzt."
Schüler: "Ich habe mal ein Video gesehen, da wurde von einem Mann
das Geschlechtsteil abgehackt, und das war wirklich sehr widerlich, zumal
das ist auch wirklich passiert."
Die Schüler sagen: Gewaltvideos auf Handys sind schon lange üblich.
Bisher hat es nur keiner gemerkt.
"Ich glaube, dass die meisten Eltern eher wenig Ahnung davon haben,
dass sie vielleicht selber ein Handy haben zum Telefonieren oder so, oder
mal erreichbar sind, wenn was passiert, aber die Kinder-Handys, ich glaube
nicht, dass die das groß was angeht. Das ist denen eigentlich relativ
egal."
An der
Schule in Gifhorn müssen Handys jetzt ausgeschaltet bleiben. Gewaltpornos
und Mord sollen aus der Schule verbannt werden. Ein Versuch.
Wulf-Helmut Allmann, Direktor Alfred-Teves-Schule: "Für mich war
das sehr, sehr schlimm - ist es heute immer noch. - Und wenn ich mir überlege,
dass Kinder, Heranwachsende, 12- und 13jährige, so etwas sehen und
das für sie zum Alltag gehört, dann können wir das so nicht
akzeptieren. Dann wollen wir das so auch nicht weiter hinnehmen, wir wollen
dann irgend etwas tun und reagieren."
Kellertreff
in der Bethlehemkirche, Hannover. Nur wer ein Handy hat, gehört dazu.
Gewaltvideos haben hier eigentlich nichts zu suchen, sie sind unerwünscht.
Viele Jugendliche haben sie trotzdem.
Jugendlicher: "In meinem Freundeskreis sind es ungefähr 90%, die
Gewaltvideos auf dem Handy haben."
Jörg Ratzmann, Sozialpädagoge: "Ich selber bekomme es kaum
mit in meinem Jugendzentrum, wie schnell das geht, dass Jugendliche sich
Kurzfilme hin- und herschicken, ohne dass ich erst mal über den Inhalt
Bescheid weiß. Aber das ist heutzutage technisch so schnell möglich,
so was zu tauschen. Und früher brauchte man das Internet noch dafür.
Ein Verbindungskabel und heutzutage einen guten Laptop mit Bluetooth-Schnittstelle,
ein Handy, und man hat es auf seinem Handy drauf, und die Verbreitung ist
kaum noch zu stoppen."
Bluetooth ist eine neue Schnittstelle, über die man Videos austauschen
kann. Von Handy zu Handy, kostenlos und in Sekundenschnelle. Jeder kann
an jeden schicken. Einzige Voraussetzung: die Bluetooth-Schnittstelle. Und
die hat heute jedes dritte Schüler-Handy.
Eltern
wissen nichts davon
|
Jörg
Ratzmann, Sozialpädagoge: "Erschreckenderweise werden gerade die
Gewaltvideos auch getauscht, wie wir damals Panini-Fussballbilder getauscht
haben. Die gehen rum, und wer gerade das coolste in der Woche dabei hat
oder in dem Monat, der ist auch auf dem Schulhof angesagt."
Angesagt sind solche Bilder: Einem Mann wird der Kopf abgeschnitten.
Jugendlicher: "Entweder sieht man Leute, denen die Arme rausgerissen
werden oder der Hals durchgesägt mit einem Messer oder sonstige Sachen,
wo einfach Leute zusammengeprügelt werden."
Panorama: "Und kriegt das ein Lehrer nicht mit?"
Jugendlicher: "Nicht immer, manche ignorieren es auch einfach."
Handys sind schwer zu kontrollieren. Über die Hälfte der Jugendlichen
besitzt eines mit Kamera. Schüler telefonieren seltener, sie tauschen
lieber Bilder. Nur wenige Erwachsene wissen das.
Jörg Ratzmann, Sozialpädagoge: "Das ist so einfach auch die
Gefahr bei der Sache, es kann zwischen den Klassenräumen geschehen,
es kann in der eigenen Klasse passieren, in den Pausen passiert es ständig.
Nachmittags im Freizeitbereich, abends, da sind die Grenzen fließend.
Da gibt es keine Zeit, wo man sagen kann, dann oder dann, es wird einfach
immer getauscht, wenn man sich sieht."
Manchen reicht das nicht. Sie produzieren selbst Videos.
Jugendlicher: "Wir drehen Videos, wo sechs Leute gegen einen kämpfen,
und der eine verprügelt die, oder der eine wird krankenhausreif geschlagen."
Panorama: "Und das mit Handys?"
Jugendlicher: "Ja, und das mit Handys."
Panorama: "Und dann ist auch egal, wenn es wehtut?"
Jugendlicher: "Ja, Hauptsache, wir werden berühmt."
Die
Realschule in Lamspringe bei Hildesheim. Auch hier wollen sechs Schüler
"berühmt" werden. Ein halbes Jahr sollen sie einen Klassenkameraden
immer wieder geschlagen und erniedrigt haben. Am Ende münden die Quälereien
in Schläge und Tritte vor laufender Kamera. Ein Täter schneidet
wie ein Profi einen Film: mit Vorspann, Musik und Untertiteln. Produziert,
um zu demütigen. Jetzt ermitteln Polizei und Staatsanwalt. Das Video
wollen wir nicht zeigen, um das Opfer zu schützen.
Uwe Herwig, Polizei-Hauptkommissar, Bad Salzdetfurth: "Also ein in
der Form mit Musik, mit Untertiteln und Abspann bearbeitetes Video aus dem
Schulbereich von so einer Straftat hatte ich bis zu dem Zeitpunkt auch noch
nicht gesehen. Die
Darstellung auf der CD in Lamspringe stellte zunächst in der ersten
Szene ein Mädchen dar, das auf das Opfer einschlägt. Die zweite
Szene findet an einem anderen Ort auf einem Flur in der Schule statt. Dort
sitzt das Opfer auf einem Sofa, und der Täter sitzt neben ihm und schlägt
ihm, für das Opfer völlig unerwartet, mit dem Ellenbogen mitten
ins Gesicht. Die dritte Szene spielt im Klassenraum der Schule. Dort sitzt
das Opfer an seinem Platz, und mehrere Täter gehen an ihm vorbei, schlagen
auf ihn ein, drücken ihn herunter auf den Tisch, und der letzte Täter
schlägt mit einem Stuhl auf ihn ein."
Die Schule in Gifhorn hat ihre Probleme mit Gewaltvideos öffentlich
gemacht. Vor allem wegen der erschreckenden Ahnungslosigkeit der meisten
Erwachsenen. Lehrer und Eltern wissen fast nie etwas über die Gewaltvideos
auf den Handys ihrer Kinder.
Marcus Lüpke, Lehrer: "Das schlimmste daran ist, dass viele Erwachsene
dort keinen Zugriff mehr haben, dass die Kinder also, was die Medienwelt
angeht und das Umgehen mit neuen Medien, die Erwachsenen schon bald überholt
haben. Das ist ein krasses Phänomen, was ich sehr beängstigend
finde."
Unbemerkt
hat sich eine Kultur der Gewalt entwickelt. Wahrscheinlich erst der Anfang,
wenn niemand einschreitet.
Marcus Lüpke, Lehrer: "Im nächsten halben Jahr sind es dann
nicht mehr die Fäuste, sondern es sind irgendwelche Handwaffen, die
da mit verwendet werden. Messer, Schlagstöcke oder ähnliches.
Weil die anderen Videos langweilig geworden sind."
Quelle: ARD-Magazin Panorama vom 2.2.2006. Abdruck mit freundlicher Genehmigung
der Redaktion.
Die
Kultur der Gewalt
|
Immer wieder
"erklären" die Jugendlichen in der Panorama-Sendung ihr Motiv,
nämlich dass sie damit bei den Kollegen gut ankommen: Wer das grausamste,
blutrünstigste Video auf seinem Handy besitzt, ist der King! Aber reicht
diese Erklärung aus? Wieso kommt man gerade damit an? Wieso ist grausames,
gefühlloses Töten heute ein Wert, wo Kinder sich früher für
Fußballer und Sportler begeistert hatten, deren Bilder sie auf dem
Schulhof austauschten. Sind diese Jugendlichen heute anders? Einfach verroht,
verwahrlost, gefühllos?
Die schriftliche Version der Panorama-Sendung lasen wir zufällig am
selben Abend, als die neuen Bilder der Prügelfolterszenen aus dem irakischen
Basra in den Fernsehnachrichten ausgestrahlt wurden. Sechs britische Soldaten
prügelten einen irakischen Jugendlichen, der vor dem Gefängnis
demonstriert hatte, schlugen mit Waffen auf ihn ein, traten ihn in die Hoden.
Ein Soldat filmte die Szene und stieß dabei Begeisterungsschreie aus.
Die Parallele traf uns wie ein Schlag: Nur in einer Gesellschaft, in der
sich seit Jahren eine Kriegskultur, eine Kultur der Kälte, der Gefühllosigkeit,
des Todes entwickelt hat, können Kinder mit solchen Scheußlichkeiten
bei ihren Kameraden zur Geltung kommen, ist Gefühllosigkeit ein "Wert",
der einem zu Ansehen verhilft.
Dass Videospiele
in den USA als gezielte Vorbereitung auf das Töten im Krieg eingesetzt
werden, ist seit Jahren bekannt. Dass mit brutalen Spielen Rekruten geworben
werden, die der US-Armee langsam ausgehen, auch. Denn diese grausamen Videospiele
bewirken neben dem Trainingseffekt, zum Beispiel der Zielgenauigkeit beim
Schiessen, die gefühlsmäßige Abstumpfung und die Lahmlegung
ganzer Hirnregionen, in denen das vernunftmäßige Denken angesiedelt
ist. Statt dessen stimulieren sie Ängste und andere Affekte.
Solcherart trainierte Jugendliche, gerade wenn sie auch sonst keine Perspektive
haben, lassen sich gut für den "Krieg gegen den Terror" gebrauchen,
der ja laut Bush noch Jahrzehnte dauern soll. Die grausamen Folterszenen
in den unter amerikanischer Kontrolle stehenden Gefängnissen legen
Zeugnis davon ab. Das Euthanasieren alter Menschen und das Verreckanlassen
vieler Kinder und Jugendlicher im Drogensumpf gehören ins gleiche Kapitel
unserer Kriegskultur.
Der Rektor der Alfred-Teves-Schule hat vorbildlich gehandelt. Er verbannte die Gewalt und die Handys aus seiner Schule. Jeder, der von solchem Treiben Kenntnis erlangt, sollte seinem Beispiel folgen. Eine Erlanger Mutter erreichte ein Verbot von LAN-Parties an allen bayrischen Schulen. Jeder kann an seinem Platz tätig werden. Die Jugendlichen werden uns dankbar sein. Wir müssen mit ihnen sprechen, sie aufklären über den Zusammenhang von gezielter Gefühlsabstumpfung und Kriegsvorbereitung. Dann werden sie sich abwenden. Jugendliche sind für Werte wie Mitmenschlichkeit und Gerechtigkeit ansprechbar.
Infos auch
aus Artikel 5: Zeit-Fragen Nr.9 vom 27.2.2006
Weitere
Artikel zu diesem Thema auf unserer Homepage
|
Sinn dieser Information (hier klicken)
INITIATIVE
Information - Natur - Gesellschaft
A-4882 Oberwang
Homepage: www.initiative.cc